Wee Kee Jin beim Taijiquan

Taijiquan und Kneipenschlägereien

In memoriam Dietmar (1939-2018)

Taugt Taijiquan zum Kämpfen?

Dass das Üben des Tai Chi förderlich ist und – nach meinem Eindruck – bald täglich eine neue Studie den positiven Einfluss auf die Gesundheit bestätigt, ist eine Sache. Eine ganz andere Sache ist das mit dem Kampf. Tai Chi Chuan als Kampfkunst? Der Begriff Kunst geht ja vielleicht gerade noch. Aber Kampfkunst? Mal im Ernst….

Keine Frage wird so leidenschaftlich und kontrovers in der Tai Chi – Szene diskutiert wie die Frage nach der Kampftauglichkeit des Taijiquan. Mein Blogartikel Taiijiquan – Kampfsport oder Kampfkunst? ist mit Abstand der meistgelesene und -kommentierte Blogbeitrag. Eine Frage, die offenbar polarisiert.

„So richtig, wie bei einer Kneipenschlägerei!“

Dieser Satz wird in mir für immer mit Dietmar verbunden bleiben. Als ich noch recht neu war im Tai Chi und das erste Mal zu einem mehrtägigen Trainingscamp von Wee Kee Jin fuhr, traf ich dort auf Dietmar. Damals war er gerade etwa 70 und für sein Alter erstaunlich rüstig.

Schnell merkte ich, dass es für mich keine große Freude war mit Dietmar zu üben. Er klammerte mit seinen knochigen Fingern, war rüde und ruppig und zur Krönung des ganzen verkündete er: Tai Chi müsse auch zur Kneipenschlägerei taugen, sonst sei es keine Martial Art.

Nun ja, die Geschmäcker sind verschieden.

Für einen möglichen Kampf üben und das Kämpfen

Im Dezember 2018 starb er nun mit Ende 70, für uns alle völlig überraschend. Und ich habe inzwischen viele Stimmen gehört, die ihn als Trainingspartner geschätzt haben. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Ein Freund erzählte mir, er sei von Jin bewusst immer wieder ausdrücklich zu Dietmar geschickt worden. Es sei anfangs schwierig gewesen. Doch Dietmars hartes Agieren habe ihm ermöglicht seine eigenen Aggressionen deutlicher wahrzunehmen und mit der Zeit auch in den Griff zu bekommen.

Ich war überrascht, denn so hatte ich es bisher noch nicht gesehen. Für mich wäre das nichts gewesen, wir sind eben alle verschieden. Mich brauchte aber auch niemand zu schicken, Dietmar kam oft genug von selbst auf mich zu. Nein, ich war dafür wahrlich nicht immer dankbar. Ich wollte keine blauen Flecken und andere Blessuren im Training verpasst bekommen. Wo bleibt da die Gesundheit?

Kampf und Kampf: gleiches Wort, anderer Inhalt

Was auch immer Dietmar bewegt hat: Er änderte sich, sogar massiv. Ich vermute, er gab irgendwann den an sich selbst gerichteten Anspruch auf, jede Begegnung mit einem Partner zu einer (seiner, also Dietmars Vorstellung entsprechenden) Kampfhandlung werden zu lassen. Also keine Kneipenschlägereien mehr in der Turnhalle. Und das war genau richtig.

Für mich ermöglichte diese Verhaltensänderung, dass ich überhaupt mit ihm körperlich wieder zu üben begann. Allen körperlichen Begegnungen hatte ich mich nämlich schnellstmöglich entzogen, indem ich ihm bei jeder Begegnung sofort eine Frage zum Tai Chi stellte. Fragen beantwortete Dietmar nicht nur gerne, sondern auch ausgesprochen ausführlich. So standen wir dann beisammen, meist hielt er meine Hand oder Arm, und referierte und referierte… bis der nächste Partnerwechsel angesagt wurde.

Auch für diese Begegnungen bin ich Dietmar dankbar. Denn auch sie betrachte ich als praktiziertes Tai Chi: Den „Gegner“ erkennen und dann lernen mit ihm umzugehen. Netter fand ich es aber doch, als er begann den Arbeitsanweisungen im Workshop Folge leisten, denn dafür war ich schließlich angereist.

Nach meinem Erleben hat Dietmar sein Trainingsverhalten in den letzten Jahren massiv veränderte. Ich war und bin von dieser Metamorphose wirklich beeindruckt. An irgendeinem Punkt hat schließlich auch er verstanden, dass das Üben eines Kampfs und das Kämpfen an sich zwei verschiedene paar Schuhe sind.

Als wir im vergangenen Sommer miteinander übten gelang ihm ein wunderbarer butterweicher Push. Auf meine ausdrückliche Begeisterung reagierte er nur mit einem verschmitzten Lächeln. Auch das werde ich sicherlich nicht vergessen.


Beitrag veröffentlicht

in

, ,

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert