Ein kurioses Erlebnis im Zusammenhang mit Taijiquan hatte ich eines morgens als ich die Loosenings übte. Zu dieser Zeit gelang es mir regelmäßig eine Stunde eher aufzustehen und in aller Ruhe Taijiquan zu üben. Es war Winter, draußen noch dunkel, und ich stand in unserem Wohnzimmer, lauschte dem leisen Schnarchen meines Hundes und war meistens auch noch gar nicht ganz wach.
Das änderte sich an einem Tag schlagartig. Ich hatte die erste Loosening begonnen, stieg an der Mittellinie und drehte langsam zur rechten Seite – als es mich wie eine riesige Welle überrollte. Mit der Bewegung stieg plötzlich eine ungeahnte Panik in mir auf. War etwas passiert? Ein Geräusch, eine unerwartete Bewegung in der Wohnung oder draußen? Nein, nichts. Ob ich vielleicht doch noch schlief?
Ach was, gar nicht drüber nachdenken. Also gut, noch einmal: Sammeln, Aufmerksamkeit nach innen, loslassen. Ich drehte in mein rechtes Bein… und wieder: Tränen schossen mir in die Augen, ich schnappte nach Luft. Panik! Ich setzte mich auf den Boden und überlegte. Alles war wie immer. In der Achterbahn wäre es nachvollziehbar, doch einfach so? Ich war völlig perplex.
Die Welle im Wohnzimmer
Die Panikwelle war glücklicherweise zuverlässig reproduzierbar, mit jeder Drehung ins rechte Bein. Und das war gut so. Anderenfalls hätte ich an meinem Verstand gezweifelt. Ich habe die Bewegung meinem Mann vorgeführt, der wirklich beeindruckt war. Er kennt mich, lange und gut. Panikwellen passten nicht in sein Bild von mir. In meins übrigens auch nicht.
Da schreit es drin im Zimmer: «Vati!» Es klingt, als ob jemand ertränke. ‚In einem Wohnzimmer ertrinkt man nicht‘, denkt Herr Palfy und entweicht.
Erich Kästner, Das doppelte Lottchen
Inzwischen kann ich in der Vergangenheitsform von der Panik in meinem Bein berichten. Es war beängstigend. Es war kein Vergnügen. Es hat gedauert. Doch weil ich mir 100% sicher sein konnte, dass keine reale Gefahr bestand, konnte ich mich auf die Bewegung und das daraus resultierende Gefühl einlassen. Mehr und mehr, wieder und wieder. Ohne kritisieren, ohne Druck, nur beobachten. „Einfach“ zulassen. Der Effekt war, dass die Panik weniger wurde und schließlich verschwand. Seitdem achte ich viel sorgfältiger auf meine Gefühle, nicht nur beim Taijiquan.
Grenzerfahrung
Was es war? So leid es mir tut, ich werde diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten können. Immerhin habe ich eine Vermutung. Nach meinem Eindruck hat sich zu der Zeit die Bewegungsmöglichkeit meiner Hüfte vergrößert. Damit änderte sich die gesamte Bewegung, ich kam an oder über meine bis dahin bestehenden Grenzen. Das habe ich aber gar nicht bewusst wahrgenommen. Irgendwas konnte einfach mal loslassen. Alarm hat mein unbewusstes Kontroll- und Sicherheitssystem geschlagen, weil? … es fremd, anders, ungewohnt, unsicher, … war?
Ich habe beim Taijiquan inzwischen immer mal wieder ähnliche Erlebnisse gehabt. Sie waren nicht ganz so heftig und auch nicht mehr so beängstigend wie beim ersten Mal. Grenzerfahrungen sind keine Erfahrungen oder Gefühle, um die ich mich reiße, aber sie gehören bei mir scheinbar dazu.
Inzwischen ist mir doch glatt wieder eingefallen, dass ich als Kind beim Spielen auch diese Gefühlswelle erlebt habe: Als ich auf Rollschuhen viel zu schnell die Wallanlagen hinunter raste. Wenn auf der Rodelbahn der Schlitten außer Kontrolle zu geraten schien. In dem Moment, wenn die Schaukel zum Äußersten getrieben oben kurz durchsackte und das Gefühl der Schwerelosigkeit ermöglichte. Das sind lauter Dinge, die ich (leider?) schon ewig nicht mehr mache. Das Gefühl der Grenzerfahrung wird von mir nur noch wenig „benutzt“, ist fremd geworden.
Einstellung
Ehrlich gesagt, hat sich seit diesem Erlebnis auch meine Einstellung, vielleicht auch meine Haltung geändert: Es sind immer noch erschreckende Momente, aber ich empfinde sie auch als belebend. Es ist ein gutes Gefühl wenn ich anschließend wieder feststelle, dass Schrecksekunden zwar schrecklich, aber doch zu überleben sind. Es gibt mir den Mut, mich an die nächste Grenze heranzutasten…
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