So sehr ich mich über die positive Resonanz zu meinem Beitrag Taijiquan – ein Geschenk des Himmels? gefreut habe – ganz glücklich bin ich damit nicht. „Unbedingt loslassen!“ hieß es da in den Kommentaren. Danke für die Anregung. Nur: Wie macht man das eigentlich?
„Manchmal muss man einfach mal loslassen“, heißt es. Das Wort „einfach“ im Zusammenhang mit „loslassen“ zu gebrauchen, empfinde ich schon fast als Zumutung. Insbesondere auch im Kontext von Taijiquan. Da wurde mir schon von wohlmeinenden Menschen geraten „einfach mal“ den unteren Rücken, die Hüfte oder sonstige Bereiche meines Körpers loszulassen. Super Idee, ganz gewiss, und so einfach… gesagt – jedoch nicht getan, weil…? Ähm, wie geht denn das? Was hält mich denn noch, wenn ich jetzt loslasse?
Im Vergleich zu anderen Bewegungskünsten – denn dieser Aspekt erscheint mir tatsächlich eine Kunst zu sein – praktizieren wir im Taijiquan eine anspruchsvolle Art des Loslassens. Warum ich das so sehe? Nun, im Taijiquan stehen wir, frei im Raum und aufrecht. Da gibt es keine Hilfsmittel, keine Unterstützung, keine Nähe zum Boden wie auf einer Yogamatte. Wenn ich nun loslasse, meine Haltung aufgebe, riskiere ich, dass ich keine Alternative finde. Und dann? Was ich loslasse, lässt sich vielleicht noch einigermaßen bestimmen, aber die Folgen? Ob ich etwas überhaupt loslassen kann, woher weiß ich das? Wie gleiche ich die nachlassende Spannung aus? Wo gleiche ich aus? Wieviele Bereiche meines Körpers davon erfasst werden, weiß ich vorher nicht, und habe ich überhaupt die Möglichkeit der Kompensation? Fragen über Fragen.
Manchmal erscheint mir das Üben des Taijiquan geradezu grausam. Wieder und immer wieder gerate ich an meine Grenzen. Millimeter für Millimeter versuche ich sie zu verschieben, ringe mit der Angst, in der Hoffnung, sie endlich in (Selbst-)Vertrauen zu verwandeln. Die innere Balance ist nicht statisch, ist schon gar nicht einfach. Stabilität ist ein Zusammenspiel von hart und weich, von starr und elastisch. Das ist sehr komplex, nicht nur in körperlicher Hinsicht. Daher wundert es nicht, wenn manche genervt sind, wenn sie die innere Balance nicht finden.
Wer noch keine Idee hat, wovon hier die Rede ist, möge folgenden kleinen Selbst-Versuch starten: Ausgangspunkt ist der Bogenschritt (auch: Bogenstand), d.h. ein Bein steht gerade etwas weiter vorn und bei dem hinteren ist der Fuß etwa 45 Grad nach außen gestellt. Der Körper ist aufrecht und daher automatisch in der Mitte zwischen den Füßen, sowohl in Bezug auf links/rechts als auch vorne/hinten. Das ist ein ganz gängiger, recht robuster Stand.
Jetzt aber: Wenn der Körper auf der gedachten Mittellinie zwischen den beiden Füßen auch nur ein klein wenig nach hinten bewegt wird (aufrecht bleiben, nicht lehnen!), wird der Stand mindestens unangenehm, manchmal gar beklemmend, weil unsicher. Ausprobiert? So mies kann sich eine kleine Veränderung des Schwerpunkts, der inneren Balance anfühlen.
Hier gilt es nun herauszufinden, wie ich trotz dieser Bewegung nach hinten innerlich stabil bleiben kann, denn sie gibt mir Raum. Freiraum, Bewegungsfreiheit, um auf einen Angreifer zu reagieren. Denn bleibe ich in der inneren Balance, kann mir nicht viel passieren. Aber mir diese Freiräume zu erarbeiten, ist nicht „einfach mal“. Jedenfalls nicht für mich, es fordert mich mental und physisch heraus. Wieder und wieder und wieder.
Schreibe einen Kommentar