Einer der für mich wertvollsten Aspekte des Taijiquan ist, dass ich im Training einen geschützten Raum, eine Umgebung finde, in der ich mich gefahrlos ausprobieren kann. Was soll das heißen? Nach meinem Eindruck sind nicht nur viele Sätze der chinesischen Klassiker zunächst nicht zu verstehen. In der Regel verstehen wir uns und unsere Handlungen auch ohne Taijiquan schon selten oder nie. „Wie konnte ich das nur tun?“, „Warum passiert mir das schon wieder?“ oder „Warum immer ich?“ Kennen wir doch alle.
Es bedarf daher konkreter Handlungen, um mehr über mich und meine Handlungsfähigkeit in Erfahrung zu bringen. Daher halte ich es für ungeheuer wichtig, dass eingeübtes Verhalten durch die „Push-Hands“ oder Tuishou erprobt und erfahren wird. Das eingeübte Verhalten stammt übrigens zunächst ganz überwiegend aus dem Alltag. Durch die exakt vorgegebenen Bewegungsabläufe in der Partnerarbeit habe ich eine Referenz, an der ich mich und mein Verhalten messen kann. In den Push-Hands erlebe ich mein Handeln. Ich bekomme eine unmittelbare Antwort auf meine Handlung, so wie ich unmittelbar eine Antwort auf die Handlung meines Mitspielers gebe. Das bedeutet, ich kann erkennen, welche Antwort oder welche Möglichkeiten der Antwort mir zur Verfügung stehen.
Für mich lauten die Fragen, die ich mir während der Push-Hands innerlich stelle: Welche Antwort gebe ich der Welt? Wie reagiere ich auf die Welt? Wenn ich ein Mensch bin, der zögerlich ist, abwartet, abwägt, überlegt, dann werde ich genau diese Erfahrung in der Partnerarbeit ebenfalls machen. Mein Lehrer hat mir beim gemeinsamen freien Pushen wohl 6, 7, 8 Mal auf dieselbe Art meinen Arm vor der Kopf geführt (Die Aussage stimmt insofern nicht, als derjenige, der frei gepushed wird (unbewusst) selbst die Bewegung hervorruft). Obwohl das Pushen mit Wee Kee Jin immer eine Freude ist, fand ich die dauernde Wiederholung natürlich blöd. Daher fragte ich ihn, was ich dagegen tun könne. Jins Antwort: „Nichts. Es ist zu spät.“ Auch das war unbefriedigend, weil ich es noch nicht verstand. Erst viel später habe ich begriffen, dass meine Reaktion, von der ich annahm, dass sie unmittelbar erfolgte, deutlich eher hätte beginnen müssen. So hat sich mein Verständnis vom „richtigen“ Zeitpunkt durch das Taijiquan-Training inzwischen massiv verändert.
Wenn ich also erkenne, dass ich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art reagiere, dann habe ich im Taijiquan ein klar definiertes Feld, in dem ich ausprobieren kann, wie ich alternativ, vielleicht sogar besser reagieren kann. Ich kann mich in meinen Antwortmöglichkeiten ausprobieren, ohne befürchten zu müssen, mich zu blamieren oder nachhaltig schaden zu nehmen. Das klingt in Worten, also der Theorie, wieder einmal sehr banal, hat aber im Erleben (nach meiner Erfahrung) weit reichende Konsequenzen. Es ist keine ganz einfache Sache das eigene Verhalten zu erkennen und zu ändern, leider.
„Was ist meine Antwort auf die Welt?“ Diese Frage verknüpfe ich immer mit dem englischen Wort responsibility – Verantwortung, das sich aus responsible – antworten und ability – Fähigkeit entwickelte. Wir brauchen die Fähigkeit, auf die Welt angemessen zu antworten. Das ist nichts Angeborenes, sondern das muss erlernt werden. Am besten in einem geschützten Raum, in dem Standardantworten hinterfragt und ggf. korrigiert werden können.
Wir alle brauchen geschützte Räume, in denen wir gefahrlos ausprobieren können, ob das, was wir „immer schon“ so gemacht haben, auch wirklich die bestmögliche Antwort ist. Räume, in denen Fehler und alle Variationen des Fehlers problemlos ausprobiert werden dürfen. Um zu lernen und zu verstehen, was genau das Problem, der Fehler ist. Geschützte Räume, in denen der verantwortungsvolle Umgang mit Frustrationen ebenso trainiert werden kann wie der mit Unsicherheit, Wandlung und Veränderung. Ich bin überzeugt, dass wir nur mit solchen Erfahrungen die Herausforderungen der Welt werden bewältigen können.
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